Olivier de Berranger

Macroscope: Der Reigen hat begonnen

Ende März hatte die Schweizerische Nationalbank den Reigen der Zinssenkungen eröffnet, bevor im Mai ihr schwedisches Pendant, die Riksbank, folgte. Die Schwergewichte unter den Zentralbanken der Industrieländer waren der Tanzfläche jedoch noch ferngeblieben. Das hat sich inzwischen geändert: In nur einer Woche haben zwei Institute die ersten Zinsschritte unternommen. Um einen Tag war die Bank of Canada (BoC) der Europäischen Zentralbank (EZB) voraus und senkte als erste Zentralbank eines G7-Landes seine Zinsen im aktuellen Zyklus.

Die beiden Banken lagen mit einer Senkung ihrer Leitzinsen um 0,25 % zwar auch in Bezug auf das Ausmaß des Zinsschritts dicht beieinander, ihre Vorgehensweisen in den kommenden Monaten könnten jedoch deutlich voneinander abweichen. Auf kanadischer Seite hat der Gouverneur Tiff Macklem bereits die Weichen für weitere Zinssenkungen in den nächsten Monaten gestellt. Dies ist angesichts der Binnenwirtschaft durchaus gerechtfertigt. Die wichtigsten Kennzahlen für die Inflation liegen bereits seit einigen Monaten wieder unter der von der BoC gewünschten Obergrenze. Gleichzeitig stieg die Arbeitslosigkeit von 5,1 % (April 2023) wieder auf 6,1 % (April 2024) an, während das BIP-Wachstum im ersten Quartal 2024 bei dürftigen 0,5 % über ein Jahr lag und der Konsum stagniert.

Jede Zentralbank tanzt in ihrem eigenen Rhythmus

Auf europäischer Seite ist die Lage weniger klar. Obgleich die EZB die zuvor vielfach angekündigte Zinssenkung vornahm, hob sie ihre Inflationserwartungen für 2024 und 2025 an. Eine offensichtliche Inkohärenz, zu der Christine Lagarde keine eindeutige Erklärung abgab. So tappen insbesondere die Anleger im Dunkeln, was den Rhythmus der Zinssenkungen der EZB in den kommenden Quartalen betrifft. Doch diese mangelnde Transparenz lässt sich abermals mit der wirtschaftlichen Lage begründen. Die Desinflation in der Eurozone ist recht zügig vorangeschritten, aber im Dienstleistungssektor ist die Inflation nach wie vor hoch. Die Lohninflation lässt wiederum Anzeichen einer Stagnation auf zu hohen Niveaus erkennen, und die Konjunktur scheint sich nach einem Tiefpunkt im zweiten Halbjahr 2023 wieder zu erholen.

Wirtschaftlich unterschiedliche Situationen sorgen dafür, dass der Rhythmus der Zinssenkungen sich von Region zu Region unterscheidet. Dieses Phänomen beschränkt sich nicht auf Europa und Kanada. Im Vereinigten Königreich, wo eine Zeit lang eine erste Zinssenkung im Juni das Basisszenario war, wurden die Karten aufgrund schlechter Inflationszahlen im April neu gemischt. Parallel hierzu ist, anders als bei den anderen Industrieländern, kein Abflauen der hohen Lohninflation erkennbar. Hinzu kommt, dass sich die Wirtschaftstätigkeit jenseits des Ärmelkanals zwar recht gut hält, aber der private Konsum immer noch schwach ist und bei der Beschäftigungslage seit einigen Monaten eine deutliche Verschlechterung zu verzeichnen ist. In Australien ist der Ausblick kaum klarer. Dort rechnen die Märkte für 2024 nicht mit einer Zinssenkung, da die Inflation in den vergangenen Monaten wieder angezogen hat, während das Wachstum im ersten Quartal kraftlos war und der private Konsum nachlässt. Bei diesem Thema sollte auch Japan nicht außer Acht gelassen werden, dessen Geldpolitik völlig von der der anderen Industrieländer entkoppelt ist: Hier kam es im März zu einer ersten Zinserhöhung, und bis zum Jahresende werden zwei weitere erwartet.

Takt der US-Notenbank hat größte Bedeutung für Anleger

All das sind Besonderheiten, die die Zentralbanken veranlassen dürften, den Reigen zwar gemeinsam zu tanzen, allerdings jede in ihrem eigenen Rhythmus. Für die Märkte hat jedoch der Takt der Amerikaner die größte Bedeutung. Die Erwartungen der Marktteilnehmer im Hinblick auf den Kurs der US-Notenbank (Fed) gingen selten so weit auseinander. Während die einen immer noch von einer ersten Zinssenkung im Juli und mehreren weiteren in den folgenden Monaten ausgehen, rechnen andere überhaupt nicht mit einer Senkung für 2024. Dennoch ist womöglich gerade in den USA bald die künftige Entwicklung am ehesten absehbar. Denn hier fielen die Inflationsdaten im April nach den bösen Überraschungen im ersten Quartal beruhigend aus. Hier wird der Preisanstieg nur noch von wenigen Komponenten angetrieben, die nur geringfügig mit der Nachfrage korreliert sind. Hier blieb das Wachstum im ersten Quartal hinter den Erwartungen zurück, und hier verschlechtert sich die Beschäftigungslage nach und nach. Sollten sich diese wirtschaftlichen Aussichten verfestigen, könnten sie einen klaren Kurs für die Fed vorzeichnen.

Auch wenn im Reigen der Zinssenkungen zurzeit noch der ein oder andere aus der Reihe tanzt, bestehen kaum Zweifel daran, dass sich die anderen Zentralbanken der Industrieländer letztendlich der BoC und der EZB anschließen werden. Je nachdem, ob im Dreiviertel-, Viertel, Zwanzigstel- oder Hundertsteltakt getanzt wird, werden die Konsequenzen für die Anleger völlig unterschiedlich sein.

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